Sexualität benötigt Gestaltungsfreiheit und kennt keine Normen
Leidenschaft – Akzeptierte Vergänglichkeit: Zweimal pro Woche Sex braucht es schon in einer glücklichen Beziehung, finden Sie nicht auch? Thesen wie diese werden massenhaft in bunten Zeitschriften verbreitet, im Freundeskreis aufgestellt und einfach von Generation zu Generation weitergegeben. Im Umkehrschluss bedeutet das, Paare mit weniger Sex sind auch weniger glücklich. Ihre Beziehung ist weniger wert als die von Paaren, die die Gleichung mit den beiden bekannten Größen ‚Sex=Liebe‘ erfüllen.
Diese Rechnung ist die größte Liebeslüge unserer Zeit.
Lustlosigkeit wird in unserer Gesellschaft heute gerne pathologisiert. Keine Lust auf Sexualität zu empfinden – ob mit oder ohne festen Partner- gilt gemeinhin als nicht normal. Eine ganze Industrie konzentriert sich darauf, Menschen zu helfen, denen gar nicht geholfen werden muss. Es werden neue OP-Methoden entwickelt, um angeblich krankhafte Veränderungen der Genitalien so zu operieren, dass diese wieder Lust empfinden können und orgasmusfähig sind. ‚Patienten‘ werden blaue Pillen verschrieben, damit stattfinden kann, was stattfinden muss.
Spannend ist im Kontrast dazu der Ansatz von Prof. Dr. Ulrich Clement, der die Sinnhaftigkeit einer solchen Behandlung infrage stellt. Clement betrachtet Lust und Lustlosigkeit als gleichwertige Größen innerhalb der Partnerschaft. Jeder Punkt auf der Linie zwischen diesen beiden Polen gilt dabei als normal. Es ist okay, jeden Tag Lust auf Sex zu haben. Genauso ist es richtig, überhaupt kein Lustempfinden mehr zu verspüren. Glückliche Langzeitpaare akzeptieren die Differenz des Wollens ebenso wie die Differenzen, die sich in Bezug auf die sexuellen Praktiken und Neigungen ergeben können. Clemens spricht es Außenstehenden ab, eine Störung diagnostizieren zu können. Das können nur die Paare selbst, wenn sie mit ihren eigenen Wünschen einfach nicht zusammenfinden.
Konfrontation versus Harmonie: Akzeptieren Sie Ihre erotischen Differenzen
In einer Langzeitpartnerschaft begegnen sich zwei Menschen mit all ihren Unterschieden, Differenzen und individuellen Bedürfnissen. Die gesellschaftlich hochgehaltene Erwartung, man würde nur dann in der Partnerschaft glücklich werden können, wenn beide Partner in der Sexualität genau das Gleiche wollen, stellt allein die Logik bloß. Der Königsweg führt also über die Konfrontation mit den Differenzen. Paare, die dem gesellschaftlichen Ideal nacheifern wollen und Differenzen leugnen, werden den kleinsten gemeinsamen Nenner finden: die Langeweile. Paare, die sich mit unerfüllten Sehnsüchten offen auseinandersetzen, können darin eine Ressource für ihr Liebesleben finden. Indem man die Facetten der Sexualität anerkennt und das Spektrum des Möglichen auslotet, kann man überraschende Entdeckungen machen. Das ist kein Versprechen, sondern nur die Chance auf eine Möglichkeit. Allein diese Chance ist jedoch eine Auseinandersetzung mit der Offenheit wert.
Wie sich ein Scheitern an der Sexualität in der Paarbeziehung mit Bindung verhindern lässt
Das einzig Ungesunde an der Sexualität ist, ihr eine gesunde Norm auferlegen zu wollen. Die Leidenschaft zu Beginn einer Partnerschaft darf nicht als Ideal oder als Norm angesehen werden, die dauerhaft hochgehalten werden muss. Die Norm ist das, was beide Partner innerhalb der Beziehung leben. Lassen Sie Medikamente in der Apotheke stehen und wissenschaftliche Artikel über die Pathologie der Lustlosigkeit ungelesen. Schauen Sie stattdessen darauf, was Ihnen innerhalb der Partnerschaft guttut, was Sie vermissen, was Sie genießen, was Sie sich wünschen. Lustlosigkeit, weniger oder kein Sex ist kein Versagen innerhalb der Partnerschaft. Es ist eine der vielen Facetten der Sexualität. Lust lässt sich nicht von außen durch Behandlungspläne und Medikamente herbeiführen. Sie entsteht innerhalb der Partnerschaft – oder auch nicht. Die wichtigste Erkenntnis für Langzeitpaare ist, dass sich aus dem Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein von Leidenschaft keine Rückschlüsse auf den Wert oder die Intensität der Beziehung schließen lassen. Die Leidenschaft der ersten Tage geht oftmals gar nicht verloren. Sie verwandelt sich nur in Streicheleinheiten, Zärtlichkeiten, Küsse. Wenn leidenschaftliches Begehren fehlt, kann Liebe umso stärker vorhanden sein.
Also: Sexualität ist ein wichtiger Punkt in der Langzeitbeziehung, der einfach nicht so wichtig genommen werden sollte.
Auch wenn in der Partnerschaft der Sex eingeschlafen ist – bleiben?
Am Anfang glaubt jeder, dass man sich ewig begehren wird, so wie man es am Anfang erlebt hat. Dies ist ein Mythos, der einfach nicht stimmen kann, denn Alltag heißt in gewisser Weise auch Entzauberung. Zudem gibt es das Ganzheitserlebnis nur am Anfang einer Beziehung, wo etwas ist, was man nie wiederhat. Man ist sich fremd, man ist neugierig auf das Neue. Durch das Fremde entsteht etwas, was nur ist, wenn man sich noch fremd ist. Es ist der Reiz des Neuen.
Auch wenn ein Paar nicht zusammenwohnt, lernen sie sich gelegentlich auch als missgelaunt, als wütend, als eifersüchtig, als streitsüchtig oder einfach nur langweilig kennen. Klar, oft kommt dabei die Erotik abhanden, der Reiz des Neuen, auch des Unerreichbaren ist verpufft. Was bleibt, ist das, was vielleicht aber viel tragfähiger ist, als wilde Nächte.
Auch wenn die große Liebe sozusagen in die Jahre gekommen ist, kann sie voller Zärtlichkeit und sinnlicher Liebe sein. Finden Sie nicht auch alte Paare wunderbar, die Händchen haltend die Straße oder im Park entlangspazieren – und sich dabei auch noch angeregt und freundlich unterhalten? Bei einigen Paaren, die ich kenne, die mittlerweile die goldene Hochzeit feierten, ist das so. In vielen Fällen kann man davon ausgehen, dass im Bett nicht mehr viel passiert, dass die Paare, die lange zusammenbleiben, aber eine Art innere Zufriedenheit entwickeln, etwas Warmes, das gerade ohne den ungestümen, leidenschaftlichen Sex des Anfangs auskommt. Wie sehen empfinden Sie diese Option, wenn Sie sich Ihr späteres Leben vorstellen?
Liebe ganz ohne Zwang zum Sex
Wenn man souverän sind, lässt man sich von Fremdbildern, wie essenziell Sex in der Partnerschaft ist, ohnehin nicht leiten. Man hat dann auch die Freiheit, die Liebe für sich ganz neu zu definieren und allen Elementen ihren eigenen Stellenwert zu geben: Zärtlichkeiten, Gespräche, Zuhören, Vertrautheit, die Basis, die man gemeinsam aufbaut.