Mögliches und Unmögliches herauszufinden
Clement setzt sich dort mit klaren Formulierungen und inhaltlich kritisch mit der herkömmlichen Sexualtherapie auseinander. Er weist darauf hin, dass „die Variationen sexuellen Begehrens ungleich größer, unvorhersehbarer, flüchtiger sind als die der sexuellen Funktion und die EINEN … weit weniger normativ fassbar sind als die ANDEREN«.
Clement verzichtet gänzlich auf die Pathologisierung der Lustlosigkeit, sie wird als Ergebnis eines Angst bindenden Kompromisses gesehen, in dem bedrohliche Begehrens-unterschied der Partner und erotische Differenzen aufgelöst sind. In den Mittelpunkt seiner therapeutischen Bemühungen stellt er daher nicht das gemeinsame »Können« und die Arbeit daran, sondern die »Differenz des Wollens«. Clement ist bereit zu einer Sexualtherapie, „die Ausrichtung auf das sexuelle Funktionieren von freundschaftlich kooperierenden Partnern aufgegeben hat, zugunsten einer Konfrontation und irritationsbereiten Paartherapie des Begehrens«.
Partner tendieren tatsächlich dazu, erotische Differenzen zugunsten einer verbindenden Harmonie aufzugeben. Trennen des wird geleugnet und gemeinsames kultiviert, worunter die Erotik leidet. Diese Vorgänge konnte ich gerade bei einigen Partnern, die mit ihren Schilderungen zu diesem Buch beitrugen, beobachten.
Sie beschrieben die erotische Situation ihrer Partnerschaft offen und ehrlich, das eingeschlossen, womit sie unzufrieden sind, und gaben auch über ihre unerfüllten Träume Auskunft. Sobald sie aber damit rechnen mussten, dass ihr Partner davon erfahren könnte, zensierten und entschärften sie ihre Schilderungen vorbeugend. Dabei wurden Differenzen im Begehren sowie erotische Unterschiede begradigt und Träume entschärft. Mit anderen Worten, es wurde der Harmonie und damit der Langeweile die Tür geöffnet und auf die Möglichkeit verzichtet, erotische Differenzen zur Belebung der Partnersexualität zuzulassen.
Clement setzt bei der „Differenz des Wollens« also an der richtigen Stelle an.
Damit wird auf die Bedingungen des Begehrens eingegangen, also auf die Unterschiedlichkeit sexueller Wünsche und Vorlieben, und die Therapie sucht in diesen Unterschieden nach neuen Möglichkeiten gemeinsamer Sexualität. Das sexuelle Spektrum der Partner nach Möglichkeiten zu erforschen, halte ich für lohnend, solange nicht von einer generellen Machbarkeit partnerschaftlicher Sexualität ausgegangen wird.
Denn natürlich kann auch dieser Ansatz systemischer Paar und Sexualtherapie nicht so einfach die oft überzogenen Wünsche der Partner erfüllen. Und da diese „Therapie des Begehrens« auf Interventionen fokussiert, die „auf das Spannungsfeld von ungelebter Fantasie und gelebtem Verhalten und auf die Unterbrechung sexueller Interaktionsmuster« zielt, wird sie das Begehren nicht an die Partnerschaft binden können, was Clement auch nicht beabsichtigt. Als Sexualtherapie, die „die Irritation durch die erotische Differenz konsequent als Ressource« sieht, wird sie faszinieren und das Spektrum der Paartherapie auf jeden Fall erweitern, auch wenn eine Orientierung an ungelebten Träumen nichts grundsätzlich Neues darstellt.
Clement hat sich für seine Arbeit Anregungen beim US-Therapeuten David Schnarch geholt, der in der Szene der Sexualtherapeuten als eine Art »Erlöser« aus beruflicher Ratlosigkeit gehandelt wird. Schnarch betont die Wichtigkeit der partnerschaftlichen Differenzierung, für ihn ist Intimität nicht nur Ergebnis harmonischer Nähe, sondern auch eine Nähe, die aus Selbstoffenbarung entsteht. Man zeigt sich dem Partner wie man ist, nimmt keine falsche Rücksicht aufeinander und hat dann die Chance, als der, der man ist, angenommen zu werden. Die Beziehungsfähigkeit, an der hier gearbeitet wird, ist im Grunde aber nichts Neues, andere nehmen statt der Differenzierung den Begriff von Helm Sterlin der »bezogenen Individuation«. Dass zwei, wenn sie einander offenbaren, dafür weitestgehend automatisch mit dauerhaftem Begehren beschenkt werden, gehört indes ebenso in den Bereich sexual therapeutischer Mythen, wie andere hier geschilderte Ansichten.
„Gott sei Dank lässt sich nicht jedes Thema therapeutisch bearbeiten“.
Würde es gelingen, alle Paare auf partnerschaftliche und partnersexuelle »Normalität« hinzulenken und sexuell Störendes grundsätzlich zu eliminieren oder in der Beziehung aufzulösen, wäre die weitere Entwicklung von Beziehungsformen blockiert. Das heißt, dass ich das »Störende«, vorwiegend das nicht therapierbare, für ebenso nötig halte, damit sich Beziehungsformen weiterentwickeln können. Dazu später unter dem Stichwort »Selbstregulation« mehr.
Neben der fast ausschließlichen Ausrichtung auf die traditionelle Partnerschaft hat die Paartherapie noch weitere Grenzen. Sie erreicht lediglich einen Bruchteil der Paare. Ihre Segnungen sind relativ wenigen, hauptsächlich materiell und intellektuell privilegierten Paaren, zugänglich. Damit jeder Betroffene durch therapeutische Unterstützung den Kampf um die Sexualität aufnehmen könnte, bräuchte es Hunderttausender nicht nur ausgebildeter, sondern darüber hinaus auch erfahrener Paartherapeuten.
Sexual therapeutische Bemühungen
Nun möchte ich bei aller kritischen Betrachtung nicht den Eindruck erwecken, als wurden sexuelle Störungen nicht existieren. Um Missverständnissen vorzubeugen, möchte ich mich auch diesem Thema zuwenden und zunächst auf eine kritische Rezension eines Lesers der Bücher von Michael Mary zuwenden.
„In der Praxis wird es wohl leider so sein, dass Marys Bücher insbesondere Menschen, die aufgrund von Defiziten in ihrer Erziehung, ihrer Persönlichkeitsentwicklung oder verursacht durch traumatische Erfahrungen in ihrem Beziehungsleben nicht (mehr) in der Lage sind, mit ihrer sexuellen Identität und ihren Wünschen und Bedürfnissen wirklich ins Reine zu kommen und die daraus nicht selten eine allgemeine Lust und körperfeindliche Lebenshaltung ableiten, ein willkommenes Alibi liefert, das Thema »Sex« nicht nur aus der eigenen Prioritätenliste zu streichen, sondern dies in gleicher Weise auch vom Partner zu erwarten.“
Wenn mir die Formulierung „wirklich ins Reine zu kommen« auch unglücklich erscheint, möchte ich niemanden entmutigen, eine Sexualtherapie aufzusuchen, wenn er aufgrund seiner individuellen Entwicklungsgeschichte und familiärer Einflüsse oder aus organischen Ursachen heraus tatsächlich an sexuellen Beeinträchtigungen leidet (etwa infolge von Krankheiten oder nach Operationen), und wenn er das ist, unverzichtbare Voraussetzung nach Lösungen dafür' sucht.
Es sollte jedoch keine allgemeine Pflicht postuliert werden, persönliche Defizite zu bearbeiten, seien sie psychischer oder organischer Natur. Man kann sich ebenso mit Defiziten arrangieren und damit leben, und das gern auch bei Verzicht auf Sexualität.
Der Begriff der „sexuellen Störung“ ist offensichtlich, auch aufgrund seines inflationären Gebrauchs, bestens geeignet, mancherlei Verwirrung hervorzurufen. Was ist darunter zu verstehen?
Der Sexualwissenschaftler Kurt Starke definiert ihn recht eng: „Von einer echten Störung kann erst dann gesprochen werden, wenn eine gesunde Person im geschlechtsreifen Alter kaum sexuelle Lust verspürt.“
Würde man diese Definition akzeptieren, litten tatsächlich viele Alleinstehende und Partner unter sexuellen Störungen. Ich kenne jedoch eine Reihe solcher Menschen, die sich durch ihre Lustlosigkeit keineswegs gestört fühlen.
Lustlosigkeit kann phasenweise auftreten oder dauerhaft.
Will man behaupten, ein Mensch müsse unglücklich sein, nur, weil er der sexuellen Befriedigung wenig abgewinnt? Nirgends ist beispielsweise nachgewiesen, dass Mönche oder Nonnen unglücklicher wären als Ehepartner.
Ulrich Clement verzichtet in seinem systemischen Ansatz auf jede Pathologisierung der Lustlosigkeit und überlässt die Definition der sexuellen Störung den Partnern: „Wenn zwei Partner darunter leiden, dass die Intensität oder Qualität ihres Begehrens nicht zusammenpasst, dann würden die beiden ihre Sexualität als gestört bezeichnen. Ich als Therapeut habe das nicht zu entscheiden oder zu definieren. Sogar im Gegenteil: Lustlosigkeit und Lust sind zunächst einmal gleichwertig. Der Partner, der sich sexuell desinteressiert und lustlos zeigt, hat genauso recht wie der Partner, der auf sexuelle Aktivität drängt und sich subjektiv als »normal« oder gesund sieht.“ Das ergibt Sinn, gleicht jedoch dem Rufen in der Wüste. Denn in der gegenwärtigen Diskussion der Luststörung melden sich, nachdem Paartherapeuten dies schon vor geraumer Zeit getan hatten, nun auch Mediziner zu Wort. Dazu wird einmal mehr der Begriff der Störung, aktuell der organischen Störung, als mögliche Ursache für den Lustverlust in den Vordergrund geschoben. „Sexuelle Probleme sind eine Volkskrankheit. Diese gehören zu den am stärksten unbehandelten Krankheitsbildern … wir müssen die Biologie der Lust besser verstehen.“ Dass genau ist es, was Ärzte, Psychologen und Therapeuten benötigen: eine neue Volkskrankheit! Journalisten brauen aus psychologischen und biologischen Komponenten den passenden Cocktail: Während zu Beginn einer Partnerschaft 70 % Männer wie Frauen Sex haben wollen, sackt die Quote bei den Frauen nach sieben Jahren auf gerade mal 10 % ab. Ohne Zweifel spielt die Psyche eine wichtige Rolle, dämpfen Beziehungsprobleme, Begierde und Lust. Oft jedoch sind es auch körperliche Fehlsteuerungen, die die Freude am Sex vergällen. Doch welcher Mensch geht wegen anhaltender Lustlosigkeit zum Arzt? Das wird sich indessen ändern, dank »neuester wissenschaftlicher« Erkenntnisse, und die Ärzte werden sich die Hände reiben.
Lustlosigkeit ist bis jetzt nicht als Krankheit anerkannt.
Lustlosigkeit, bisher nicht auf der Liste der behandlungsnotwendigen Erkrankungen im ICD-10, privat abgerechnet, wird die Kassen zum Klingeln bringen. Passend dazu hat der amerikanische Urologe Irwin Goldstein herausgefunden, dass ein Viertel seiner Patientinnen unter Orgasmusstörungen aufgrund „klitoraler Phimose« (Hautverengung der Klitorisspitze) leide. Ihnen muss geholfen werden mit dem Messer, versteht sich. Einfacher Menschenverstand würde genügen, um den Unsinn solcher Thesen deutlich zu machen. Wenn zu Beginn einer Partnerschaft siebzig Prozent der Frauen Sex wollen, nach sieben Jahren aber nur noch zwanzig Prozent, dann soll die organische Ursache haben? Ist die Klitoris geschrumpft? Sind Blutgefäße verödet? Ist zwischenzeitlich gar die Scheide zugewachsen? Im Wesentlichen begegnen wir in der organischen Diskussion dem alten Versprechen der Machbarkeit auf medizinischem Gebiet, von Pharmakonzernen gestützt. Man sollte einmal recherchieren, wie viele der neuen Erkenntnisse über angeblich organische Ursachen von Lustlosigkeit auf von Pharmakonzernen finanzierte Untersuchungen zurückgehen. Pfizer sorgt sich zudem rührend um die eheliche Sexualität, indem die Firma eine Million teure Anzeigenkampagne zur Behandlung von Erektionsproblemen unterstützt.
Längst ist klar, dass es sich um ein medizinisches Problem mit meist organischen Ursachen handelt … wichtig ist allerdings, offen darüber zu sprechen … vor allem auch mit Ihrem Arzt. Er weiß am besten, wie man Erektionsprobleme erfolgreich behandelt. Machen Sie den ersten Schritt. Das ist die Liebe wert!
Der Arzt weiß am besten, wie die Liebe zu retten ist. Natürlich mit Viagra! Man könnte herzhaft lachen, wenn es einem nicht im Halse stecken bliebe. Läuft es nicht wie im Lehrbuch, gelten Mann oder Frau als gestört. Heute darf sich jeder eine Behandlung aussuchen, medikamentös oder organisch, denn Lust ist machbar, und wenn es medizinisch misslingt, dann wie gehabt paar therapeutisch:
Die Lust überlebt am besten in festen Beziehungen. Im Laufe der Zeit schläft man vielleicht nicht mehr so oft miteinander. Dem kann man ja entgegenwirken. Aber die Lust frisch zu halten, ist eben ein aktiver Prozess. Das ist den meisten nicht so richtig klar.
Da ist es wieder: das Machbarkeitsversprechen anhaltender Lust, das angeblich niemand verbreitet. Doch alle chemischen und therapeutischen Mittelchen werden das Begehren nicht verlässlich an die Langzeitbeziehung ketten können, auch wenn man sich weiter gegen im Grunde recht einfache und Jahrtausende alte Erfahrungswerte wehrt. Auch wenn keiner der Wissenschaftler, Therapeuten oder Journalisten, denen ich in den vergangenen Jahren begegnet bin, das Phänomen nachlassenden Begehrens in der Langzeitbeziehung bestreitet, so wehren sie sich fast ausnahmslos dagegen. Unisono wird behauptet, das müsse keinesfalls so sein, es habe organische Ursachen und sei medizinisch behandelbar, oder es habe psychische Ursachen und sei somit Ausdruck von Unfähigkeit und Versagen und könne durch Erweiterung persönlicher Fähigkeiten gelöst werden.
Dies führt zu fatalen Rückschlüssen bei Partnern:
Das Scheitern wird persönlich, nicht strukturell gesehen.
Keinesfalls darf der Mangel der Institution, Ehe angekreidet werden, es liegt an den Menschen. Und was persönlich ist, das darf behandelt werden. Die Lust soll »gemacht« werden durch sexual therapeutische Mittel, und wenn das wenig Erfolg verspricht, dann eben durch Pillen, Operationen oder Sexualtherapie.
Erstes Kriterium einer Paartherapie ist und bleibt aber die Behandlungsbereitschaft der Partner. Im Allgemeinen sind wenige Partner dazu bereit.
Dann gibt es aber auch aus Erfahrung die Paare, die eine Paar und Sexualberatung als moralische Unkostenreduzierungsveranstaltung nutzen. „Wir waren ja beide bei einem Sexualtherapeuten, aber es hat letztlich nichts gebracht. Nachfolgend die resignative Reife. Und welch Wunder? Wenn die Lustlosigkeit akzeptiert wird, und nicht mehr als Störung oder Problem gesehen wird, kommt oft die Lust von ganz allein. Vielleicht ist es ein ganz einfacher Grund. Will kein Zwang und keine Erwartung mehr dahintersteht? Und das ist nach meiner Erfahrung her eine Tatsache, die bei vielen Paaren zutrifft. Druck (Erwartungen) drückt die Libido.
Grundsätzlich wäre auch zu klären: Ein Partner mag leidenschaftliche Sexualität vermissen, aber begehrt er tatsächlich seinen Partner, oder will er „nur“ selbst begehrt werden?
Oder stecken Ängste dahinter? Ängste in der Form: ‚Wenn mein Partner mich nicht begehrt, dann begehrt er bestimmt jemand anders‘, dann bin nicht mehr für ihn interessant, dann könnte er mich verlassen und austauschen?“
Hier ist eine oft getätigte Aussage und Behauptung aus den Paar- und Sexualberatungen interessant, der durch den Partner geäußert wird, der eine geringe sexuelle Aktivität als Problem sieht: Wenn mein Partner mich lieben würde, würde er die gleiche Lust verspüren, wie ich.
Aus vielen Jahren der Paar- und Sexualberatung kann ich nur eines feststellen. Bei Paaren die in eine Beziehung mit Bindung gehen und diese Beziehung auch durch den Alltag führen, ist die sexuelle Lust, praktisch nie gleich.
Hier kurz eine Erinnerung eine Aussage von Clement:
„Ich als Therapeut habe das nicht zu entscheiden oder zu definieren ob mangelnde Libido eine sexuelle Störung ist. Sogar im Gegenteil: Lustlosigkeit und Lust sind zunächst einmal gleichwertig.“
Zum Abschluss noch eine Feststellung von Michael Mary aus dem Buch „Lebet die Liebe die ihr habt“
„Glückliche Langzeitehepaare haben aufgehört, ihre Beziehung an die eigenen Vorstellungen anpassen zu wollen, stattdessen passen sie sich der Beziehung an.
Manchmal ist nun auch die Chemie zwischen den Menschen nicht so, dass Leidenschaft auf Dauer erhalten bleibt. Manchmal ist es zu Beginn der Beziehung, in der Zeit der Annäherung und der Verliebtheit, die Sexualität anders als in der Beziehung.
Als tödlich für eine Beziehung hat sich oft die Vorstellung/Erwartung gezeigt „Alles mit Einem, für immer“. Auf dieses AMEFI-Ideal – gehe ich in einem gesonderten Artikel ein.